Alt-Wien

Alt-Wien

Die Stadt, die niemals war

Alleine das einleitende Interview mit den beiden Ausstellungsmachern und Herausgebern des Katalogs Wolfgang Kos und Christian Rapp macht Lust zum Weiterlesen. Mensch wird nicht enttäuscht: Das - im doppelten Sinn des Wortes - gewichtige Werk lässt die Leser/innen "an lauter Rückblicken auf Rückblicke vorbei schlendern" (Kos, S. 8). "Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war" zeigt das Anfang des 19. Jahrhunderts beginnende Beklagen des verlorenen "Alt-Wiens", das niemals wirklich existierte, auf. Es werden 200 Jahre Stadtgeschichte nachgezeichnet, von Konflikten zwischen "Modernisierern" und "Demolierern" berichtet und Stereotypen der ewigen Wien-Nostalgie untersucht. Das Buch, wie auch die Ausstellung, versteht sich als ein "unaufdringlicher Appell an das Publikum , ganz generell über die schwierige Balance zwischen Vergangenheit und Zukunft nachzudenken." (Kos, S. 19).

Schon vor der Schleifung der Stadtmauern und lange vor den vielzitierten "Demolierern" der Spätgründerzeit um 1900 - zwischen 1850 und 1900 sind in der Wiener Innenstadt 50 Prozent aller Häuser demoliert und durch Neubauten ersetzt worden - schlug die Nostalgie zu. Die "Retrowelle" gipfelte schon 1849 in der Forderung Franz Gräffers nach Errichtung eines Stadtteils namens "Alt-Wien", der ähnlich einem heutigen musealen Themenpark originaltreu hätte bespielt werden sollen. 1892 wurde dem ein wenig Rechnung getragen, als im Prater ein begehbares Modell des Hohen Marktes im Maßstab 1:1 im Stile einer altdeutschen Stadt des 17. Jahrhunderts aufgebaut und "Alt-Wien" genannt wurde. Wie die Auseinandersetzungen um das Haas-Haus, das Museumsquartier oder Wien-Mitte beweisen, ist "Alt-Wien" keinesfalls nur ein Thema der Vergangenheit.

Der Kampf um die richtige Architektur und das richtige Stadtbild zog interessante Kreise: Adolf Loos (1870-1933), Vertreter der Wiener Moderne, setzte auf die biedermeierliche Nüchternheit. Loos verbündete sich also mit dem Vorgestern (Biedermeier), um dem Gestern und dem Heute (Gründerzeit und Historismus) ins Gesicht zu fahren (Kos, S. 388).

Zahlreiche Photos im Buch zeigen den enormen Wandel der Innenstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So gilt der Ausspruch des gnadenlosen Karl Kraus aus dem Jahre 1912 noch immer - bzw. schon wieder: "Ich muss den Ästheten eine niederschmetternde Mitteilung machen: Alt-Wien war einmal neu." Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, wird das "Neu-Wien" der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Jugendstil als "Alt-Wien" - auch und vor allem in der offiziellen Tourismuswerbung - vermarktet. So verändern sich die Sichtweisen!

Interessant sind die Querverbindungen in der Ausstellung und im Katalog zum Themenkomplex Tourismus (z.B. S. 268, 278, 298 ff., 312 ff). Wie der Architekturkritiker Friedrich Achleitner teils bissig schreibt, läuft der Wiener Städtetourismus zum großen Teil entlang von Wahrnehmungsklischees ab, die von Vedutenmalern des 18. und 19. Jahrhunderts, von Photographen und Feuilletonisten erfolgreich verbreitet wurden. "Und die liebste Beschäftigung der Touristen ist die Reproduktion dieser Bilder mit der eigenen Kamera." (S. 23), wobei der "urlaubende Blick [...] ein milderer, nachsichtigerer, distanzierterer und humorvollerer [ist]. Der Urlaubskitsch ist ein anderer als der heimische, reden wir uns zumindest ein." (S. 26).

Die Bewahrung des alten Zustandes und die Entkräftung des Vorwurf der Sentimentalität wurde schon im Jahre 1910 volkswirtschaftlich mit der Bedeutung Alt-Wiens für den Fremdenverkehrs argumentiert. (siehe S. 203 oder 211).

Dem Tourismus ist in der Ausstellung und im Katalogteil (S. 521ff.) ein eigener Raum "Alt-Wien als Marke" gewidmet, bezeichnenderweise gemeinsam mit dem Schwerpunkt "Bonbonverpackung". Genial ist das Abschlussphoto auf Seite 567 gewählt: Es zeigt die "Opera Toilet Vienna mit Musik" in der Opernringpassage; das "stille Örtchen" verkleidet als Wiener Staatsoper mit Klängen von Mozart und Co.
Fazit über "Alt-Wien": Ein herausragendes Werk und allen Wiener Tourismusverantwortlichen zur Selbstreflexion stark empfohlen.

Christian Hlavac

 

Wolfgang Kos, Christian Rapp (Hrsg.): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Ausstellungskatalog. Czernin Verlag, Wien 2004; 575 S. (Broschur), ISBN 3-7076-0202-8; EUR 32,-



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